
Die erste elektrische Lokomotive - da stand wie gewohnt die Produktidee am Anfang. Bild von Wikipedia
Das RealExperiment darf es eigentlich nicht geben. Wir haben kein Existenzrecht. Zumindest dann nicht, wenn man einer der letzten Kritiken glauben darf, die dem RealExperiment gegenüber geäußert wurde. Und warum, mag sich jetzt der eine oder die andere von Euch fragen, darf es uns nicht geben? Ganz einfach: Weil wir (noch) über kein Geschäftsmodell verfügen. Und keine Produktidee. Damit stellt sich – durchaus verständlich – die Frage, wann ein Unternehmen ein Unternehmen ist. Oder anders formuliert: Braucht ein Unternehmen in der Startphase eine Produkt- oder Dienstleistungsidee, um als Unternehmen gelten zu dürfen?
Diesem Artikel ging eine intensive interne Debatte von Gebhard, Markus und mir voraus. Ich klebte an unseren bisherigen Produktideen wie die Klette an der Hose. „Ja aber“, tönte ich, „wir haben sogar mehr als bloße Ideen. Es existieren doch sogar schon Produkte!“ Nun, es ist schön, wenn man seine Meinung überdenken und in der Folge des Reflektierens ändern kann (das jedenfalls macht echtes Denken aus, wie ich schon in meinem Buch „Feel it!“ schrieb).
Ich möchte die Frage nochmals drehen: Was passiert, wenn ein zu gründendes Unternehmen zu Beginn eine Produktidee hat, die deren Gründer mit diesem Unternehmen verwirklichen möchten? Ganz einfach: Es wird ein dazu passendes Geschäftsmodell geben und meist einen Businessplan. Denn schließlich wollen die Banken und Gesellschafter gerne glauben zu wissen, welche Chancen und Risiken mit einem möglichen Einsatz von Eigen- und Fremdkapital verbunden sind, um zu entscheiden, ob sie Kapital einsetzen oder nicht (aber das ist eine andere Geschichte…). Desweiteren versuchen die Unternehmensgründer, die nötigen strukturellen und personalen Ressourcen für die Entwicklung, Produktion und Vermarktung des Produktes bereitzustellen. Und damit sind wir bereits in der alten, bestenfalls gesunden Art und Weise zu wirtschaften. Warum?
Ein Beispiel: Angenommen, wir wollen im RealExperiment Tamagotchis herstellen und damit reich werden. Dann werden wir gezielt nach den entsprechenden Personen mit den passenden Qualifikationen suchen. Der Fokus unserer Suche liegt zwangsläufig auf der Sache, nicht auf den Menschen. Wir wickeln die Personen und sonstigen Ressourcen um das Produkt herum. Uns würde in erster Linie interessieren, ob die potentiellen Angestellten verbrieftes Know-How in Form von Zeugnissen haben, die sie für uns attraktiv machen. Und natürlich gäbe es an dieser Stelle zwangsläufig die erste Anweisung: Du darfst bei uns anfangen zu arbeiten, wenn Du unsere tolle Idee umsetzt. Wenn wir mutig wären, würden wir noch konstruktive Kritik erlauben. Aber eines sicher nicht: Die evolutionäre Prüfung unserer Produktidee gemeinsam mit den Menschen, mit denen wir zusammen arbeiten wollen. Nein, wir würden unausgesprochen anweisen. Und schwupp wäre sie da, die formalisierte Hierarchie.
Danach würden wir noch – wir sind ja modern – auf die sozialen „Schlüsselkompetenzen“ achten. Aber wir würden sicher niemanden einstellen, der erst mal lernen muss, ein Tamagotchi zu konstruieren. Das wäre auch reichlich unsinnig, weil wir unser Personal erst mal zur entsprechenden Ausbildung in einer Berufsschule, einer Fach- oder universitären Hochschule schicken müssten. Und dann würde es ein paar Jahre dauern, bis wir mit der Entwicklung, Produktion und Vermarktung beginnen können. Klipp und Klar: Unter dieser Prämisse wäre dieses Vorgehen sinnlos.

Wir haben die Wahl: Den Menschen oder die Sache in den Mittelpunkt stellen.
Ganz anders ist aber, wenn wir folgende vier Annahme vorausschicken: Menschen
- sind kreativ
- wollen gestalten
- streben nach Sinn
- sind soziale Wesen
Genau das glauben wir im RealExperiment. Und wir gehen davon aus, dass Menschen, wenn sie in einem entsprechenden Möglichkeitsraum zusammenfinden, um etwas zu unternehmen, Produkte und Dienstleistungen erfinden werden, die sie dann auch verwirklichen wollen. Wenn wir uns dementsprechend verhalten, passiert etwas vollkommen Anderes und Neues: Wir fokussieren uns auf die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten wollen und suchen diejenigen, bei denen zunächst mal die Chemie zwischen uns stimmt und die die obigen vier Grundannahmen besonders ausgeprägt erfüllen. Und das ist der Beginn einer auf den Menschen ausgerichteten Wirtschaft.
Im nächsten Schritt legen dann alle Beteiligten ihre Produkt- und Dienstleistungsideen auf den Tisch – natürlich auch wir selbst. Dann werden diese Ideen gemeinsam auf einer Augenhöhe geprüft. Auf Ihren Sinn, ihre Machbarkeit, den möglichen Erfolg und last but not least: die Talente und Leidenschaften der einzelnen Menschen, an der Verwirklichung der jeweiligen Ideen mitzuwirken.
Übrigens ist auf ähnliche Weise einer der heutigen drei Generaldirektoren von Guardian Industries Europe eingestellt worden. Es gab keinerlei Stellenbeschreibung, keine vorgefertigte Aufgabe sondern nur die Möglichkeit, das Luc Theis sich im Unternehmen umschaut und anschließenden einen Vorschlag macht, wo er einen Mehrwert beisteuern kann. Wen es interessiert: Die Story, die Herr Theis in einem persönlichen Interview berichtete, ist ebenfalls in meinem aktuellen Buch nachzulesen (S. 204f).
Damit steht für uns fest: Ein Unternehmen ist auch ohne vorher fixe Produktidee mit dem dazu passenden Geschäftsmodell ein Unternehmen. Konkret: Das RealExperiment ist in seiner Gründungsphase sehr wohl ein Unternehmen. Wir sind beruhigt. Wir können wieder schlafen. Denn wir dürfen doch existieren.
Herzliche Grüße
Andreas
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